Je nachdem, mit welcher Einstellung ein Mensch den Herausforderungen des Lebens begegnet, lassen sich zwei verschiedene Seelentypen unterscheiden. Die große Mehrheit gehört dem Typ der Materie zugewandten Seele an. Sie identifiziert ihr gesamtes Sein mit ihrem physischen Körper und hat dessen Bedürfnisse zu ihren eigenen gemacht. Sie erhofft sich Glück von der Materie, ersehnt sich Reichtum, Liebe, Macht, Ruhm, Sicherheit und Genuss. In der konkreten Lebenserfahrung wird diese Hoffnung immer wieder enttäuscht. Rück- und Schicksalsschläge sind offensichtlich unvermeidbar. Der ersehnte Reichtum bleibt aus, der Traumpartner erscheint nicht, die Karriere verläuft anders als geplant, Krankheit und der ständig drohende Tod hängen wie ein Damoklesschwert über ihr. Sie möchte von all diesen Plagen frei werden und stattdessen die Erfüllung ihrer Wünsche erleben.
Das ist die Situation, in der sich alle auf die Materie fixierten Seelen wiederfinden. Es haben sich zwei Strategien herausgebildet, um auf diese Herausforderung zu reagieren, je nachdem, ob es sich um eine schwache oder starke Persönlichkeit handelt. Die schwache Seele erwartet sich Erlösung von ihren Übeln und Erfüllung ihrer Wünsche durch einen Erlöser, der ihr im Diesseits hilft und im Jenseits ein seliges Leben frei von Angst und Leid beschert. Um das zu erhalten, ist sie bereit, an so einen Erlöser zu glauben und auch Opfer dafür zu bringen, wie zum Beispiel ein „guter Mensch“ zu sein. Sie verhält sich dabei passiv und tut kaum etwas, um ihre Lage zu verbessern.
Die starke, selbstbewusste, aber dennoch materiell orientierte Seele blickt hingegen den Tatsachen ins Auge, denkt nach und handelt. Sie packt den Stier bei den Hörnern und macht das Beste daraus. Sie glaubt nicht an einen Erlöser und vertraut stattdessen lieber auf ihre eigene Kraft. „Jeder ist seines Glückes Schmied“ ist ihr Lebensmotto. Sie führt Misserfolge auf eigene Fehler zurück und versucht, durch klügeres Handeln das Maß ihres Glücks zu steigern und das ihres Unglücks zu reduzieren. Sie erkennt vielleicht auch, dass ein bestimmtes Maß an Unglück unvermeidlich ist und findet sich damit ab. Gegenüber der schwachen Seele fühlt sie sich reif und erwachsen. Deren Hilferufe nach einem Erlöser führt sie auf die Unfähigkeit zurück, die Unvollkommenheit der Welt zu ertragen und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Beide dieser Herangehensweisen, egal ob aktiv oder passiv, gehen von einem schicksalhaften, ausschließlich von äußeren Umständen und materiellen Gegebenheiten geprägten Leben aus. Dabei übersehen sie jedoch etwas ganz Wesentliches, nämlich dass tief im Menschen noch eine andere Kraft schlummert, die weit stärker ist, als die Zwänge der Materie. Eine Seele, die aus dieser Kraft lebt, kann man als dem Geist zugewandt bezeichnen. Sie entwickelt einen völlig neuen Blick auf die Situation des Menschen in der Welt. Es geht ihr nicht nur darum, irgendwie mit den widrigen Umständen der irdischen Existenz fertig zu werden. Stattdessen erkennt sie, dass ihre Gefangenschaft in der Materie, also die grundlegende Tatsache, sich mit einem materiellen Körper in einer materiellen Welt zu befinden, die Wurzel all ihrer Probleme bildet. Sie weiß: Ihrem Ursprung nach ist die Seele des Menschen Teil der ewigen Fülle, ein Ebenbild Gottes. In ihrem Kern ist sie frei und nicht den Beschränkungen und Leiden der materiellen Welt unterworfen. Sie ist über den ihr innewohnenden Geist, ihr wahres Selbst, verbunden mit dem Wesen Gottes und somit unsterblich. Dieser Glanz der ursprünglichen Seele ist jedoch getrübt. Ihre göttlichen Eigenschaften waren unwirksam geworden, seitdem sie sich der Materie zugewandt hatte, in einen vergänglichen, irdischen Leib eingeschlossen worden war und dessen Sklavin im Denken, Fühlen und Handeln wurde. Sie ist ein gefallenes Wesen. Deshalb ist sie erlösungsbedürftig. Sie muss aus einem Zustand befreit werden, der ihr nicht angemessen ist, der ihre eigentliche Entfaltung verhindert und sie sterblich macht.
Das Problem ist, dass die der Materie zugewandte Seele im Allgemeinen so vom Schein der Physis geblendet ist, dass sie die Erinnerung an ihren einstigen seligen Zustand verloren hat. Sie hat vergessen, dass sie der Erlösung bedürfte und strebt daher auch nicht einmal danach, sondern verstrickt sich nur noch tiefer in den Fängen der Materie. Beginnt sich aber eine Seele dunkel an ihre einstige Vollkommenheit zu erinnern und versucht, erste Schritte zu unternehmen um aus der Gefangenschaft der Materie zu entkommen, so hat sie sofort alle zu Gegnern, die insgeheim vielleicht auch diesen Ausweg erahnen, ihn aber nicht zu gehen bereit sind, weil sie das Leben in der Materie noch zu sehr lieben. Sie wollen der abtrünnigen Seele einreden, dass ihre Sehnsucht nach Vollkommenheit hoffnungslos sei, weil es den Zustand der Vollkommenheit entweder nicht gäbe oder weil er ohnehin unerreichbar wäre. Stattdessen sollte sie besser lernen, die Unvollkommenheit der irdischen Welt zu ertragen und sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Will sie nicht hören, so wird eine härtere Gangart eingelegt. Sie wird mit Spott, Kritik, Druck, Verfolgung, Ausgrenzung und Geringschätzung bedacht.
Wie aber ist es möglich, dass sich die im Gefängnis der Materie eingeschlossene Seele überhaupt wieder an ihre wahre Heimat erinnert und dazu noch die Kraft findet, trotz aller Widerstände auszubrechen? Die gute Nachricht ist, dass sie nicht auf sich allein gestellt ist. Der göttliche Geist in ihr setzt alle Hebel in Bewegung, um sich bemerkbar zu machen. Er spricht mit einer inneren Stimme zu ihr um ihr den Ausweg zu zeigen. Jeder Mensch erlebt Momente, in denen plötzlich Erkenntnisse in sein Bewusstsein dringen, mit denen er gar nicht gerechnet hätte. Oft geschieht das im Kontext einer schicksalhaften Situation, die den Menschen an seine Grenzen bringt und aufnahmefähig für eine tiefere Einsicht macht. Das wahre Selbst richtet einen Weckruf an die schlummernde Seele.
Die der Materie zugewandte Seele macht unweigerlich Erfahrungen, die ihrem Streben nach Wunscherfüllung und Leidvermeidung entgegenwirken. Sie erlebt genau das, was sie nicht will. Mit der Zeit führt dieser Kampf gegen Windmühlen zu Erschöpfung und schließlich zu Resignation. Erst jetzt kann sich, nach einer gewissen Auflösung des Dranges zur Materie und des eigenwilligen Stolzes, der ursprüngliche Zustand der Seele, ihr wahres Wesen, als Erinnerung an etwas Verlorenes bemerkbar machen. Sobald sie erkennt, dass es keinen Sinn macht, ständig einer Karotte hinterher zu jagen, die sie ohnehin nicht erreichen kann, wird sie sich vielleicht endlich von der Materie ab- und dem Geist zuwenden. Sie hat ja von allen vergänglichen Leidenschaften gekostet und deren Unwert im Vergleich zum Unvergänglichen erkannt.
Sie verlässt jene, die sich als ihre wohlmeinenden Freunde aufspielen, weil sie auch deren Blindheit durchschaut und diese sie auf ihrem Weg in eine neues Leben nur hindern wollen. Sie löst sich von allen, die sie für sich benutzt haben, solange sie das zugelassen hat, weil sie selbst im gleichen Strickmuster des gegenseitigen Ausnützens gefangen war. Der ihr innewohnende Geist hilft ihr bei dieser völligen Umwandlung, in dem er immer deutlicher den Weg in die Freiheit weist und sie beim Voranschreiten unterstützt. Sein Licht öffnet ihr das Auge der Bewusstheit und Einsicht. So löst sich der Zustand des Mangels und der Unvollkommenheit auf. Die Seele befreit sich von allen Plagen, die mit ihrer früheren Unbewusstheit unvermeidlich verbunden waren. Was die im Zustand der Bindung an die Materie verharrende Seele vergeblich sucht, nämlich die Erlösung von allen Plagen und die Erfüllung all ihrer Wünsche, das erreicht die Seele, die diesen Zustand bewusst verlässt und in einen Zustand der Vollkommenheit eintritt. Ihre tiefe Sehnsucht nach einem Leben in Wahrheit, Freiheit und Glück findet endlich Erfüllung.
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