Wir Menschen sind widersprüchliche Wesen. Goethes Faust sagte:
Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
die eine will sich von der andern trennen:
Die eine hält in derber Liebeslust sich an die Welt mit klammernden Organen;
die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
zu den Gefilden hoher Ahnen.
In der Spiritualität spricht man von „Ich“ oder lateinisch „Ego“ und dem wahren oder höheren Selbst. Was ist das nun genau? Zu unserem Ich gehört alles, mit dem wir uns als Mensch in einem sozialen Gefüge identifizieren. Zum Ich gehören insbesondere Geschlecht, Nationalität, Alter, Beruf, Aussehen, soziale Rolle und Status. Auch unsere Erinnerungen, Lebenspläne, Wünsche und individuellen Vorlieben sind Teil unserer Ich-Persönlichkeit. Kurz gesagt, alles was dich zu diesem einzigartigen Menschen macht, der du gerade bist, macht dein Ego aus. Es gibt nur ein Problem mit dieser Sichtweise auf den Menschen: Alle diese Merkmale sind veränderlich.
Dein Alter, dein Aussehen, deine sozialen Rollen, deine Wünsche, ja sogar deine charakteristische Persönlichkeit unterliegen ständigem Wandel. Du bist jetzt ein anderer Mensch, als noch vor 5 Jahren. Und in 5 Jahren wirst du wieder ein anderer sein. Das wirft die Frage auf: Wer oder was bist du wirklich? Zwischen deinem Ich als Kind und deinem Ich heute liegen Welten. Trotzdem ist da irgendetwas, das gleich geblieben ist. Schließlich warst das auch alles du, was du als Kind warst. Du siehst jetzt die Welt mit anderen Augen, aber es bist immer noch du. Und so kommen wir langsam dem wahren Selbst näher. In jedem von uns steckt etwas Unvergängliches. Etwas, das immer da ist und sich konstant durch unsere sich ständig wandelnde Existenz zieht.
Im Gegensatz zum beständigen wahren Selbst ist das Ego flatterhaft wie eine Fahne im Wind. Der Fahnenmast hingegen steht immer fest und stabil. Warum ist diese Unterscheidung zwischen Ich und wahrem Selbst so wichtig? Wenn wir durchs Leben gehen, sehen wir meistens nur das Ego von uns selbst und den anderen. Das geht so weit, dass wir ganz vergessen, dass es so etwas wie ein wahres Selbst überhaupt gibt. Es wird einfach nicht wahrgenommen. Solange sich das Ego im ständigen Spiel der Veränderung wohlfühlt, ist auch alles gut. Aber dieses Spiel lässt sich nicht endlos spielen. Unweigerlich geschehen Dinge im Leben, die das Ego leiden lassen. Wollen wir das Leid überwinden, so müssen wir das Ego loslassen und uns dem wahren Selbst zuwenden. Das weiß das Ego, aber es will es nicht wahrhaben. Es hat Angst davor, zu sterben.
Und hier hast du einen deutlichen Indikator dafür, ob du dich gerade mit dem Ego oder deinem höheren Selbst identifizierst. Nur das Ego kann Angst empfinden. Dein wahres Selbst ist zeitlos und kennt keine Vergänglichkeit. Deswegen hat es auch nichts zu befürchten. Es ist absolut unverwundbar und unsterblich. Ein weiterer Indikator, an dem du erkennen kannst, ob gerade das Ego oder das wahre Selbst in dir am Werk ist, ist dein Wille. Wenn irgendetwas geschieht, das nicht deinem eigenen Willen entspricht und du deswegen wütend wirst, dann hat dich dein Ego im Griff. Wenn du stattdessen annehmen kannst, was ist, erhebst du dich über dein Ego und gibst deinem wahren Selbst den Vorzug. Du bist dann nicht mehr Opfer der Umstände, sondern bleibst in Gelassenheit und Souveränität.
Das wahre Selbst lässt sich auch nicht beleidigen. Gegen Beleidigungen ist es immun. Aber das Ego ist abhängig von Anerkennung. Wird ihm diese entzogen, reagiert es beleidigt. Auch hier hast du wieder die Wahl: Lässt du das zu oder nimmst du die Situation aus der Position deines höheren Selbstes wahr? Das Ego ist verletzlich. Alles seelische Leid, das du erfährst hat seinen Ursprung in einem verletzen Ich. Wer Angst und Unfreiheit überwinden will, dem bleibt nur ein Ausweg: Er muss aufhören, sich mit dem Ego zu identifizieren und den Fokus immer mehr auf das wahre Selbst richten. Nur im wahren Selbst ist dauerhafte Erfüllung, Frieden und bedingungslose Liebe zu finden. Jede Suche nach Freiheit, Freude und Glück auf der Ebene des Ich wird immer zu Enttäuschung führen. Obwohl diese Enttäuschung nicht angenehm ist, so ist sie doch heilsam. Sie heilt uns von der unglücklich machenden Besessenheit des Egos und will uns zum wahren Selbst führen, wo wir letztlich alles finden, wonach wir suchen. Ich möchte diesen Entwicklungsweg anhand eines Bildes veranschaulichen:
Stellt euch eine leuchtende Glühbirne vor. Sie gibt Licht und Wärme ab. In der geistigen Analogie steht das Licht für Erkenntnis und die Wärme für Liebe. In deinem tiefsten Inneren bist du dieses Licht und diese Wärme. Das ist dein wahres Selbst. Und jetzt stell dir vor, dass sich Schichten von Verunreinigungen um diese Glühbirne legen. Das Licht und die Wärme werden durch jede weitere Schicht immer mehr gedämpft, bis fast nichts mehr durchdringt. Diese Schmutzschichten sind unser Ego. Das soll nicht heißen, dass das Ego etwas Schlechtes wäre. Wir müssen nur verstehen, dass wir im Ego nicht unser Glück finden werden. Es verstellt uns den Blick auf unser wahres Sein. Alles, was uns bleibt, ist eine leise Ahnung von diesem Licht in uns. Wollen wir es wieder zum Strahlen bringen, so müssen wir uns daran machen, die Glühbirne zu reinigen. Schicht für Schicht arbeiten wir uns durch die Verschmutzungen hindurch, bis das zeitlose Licht in uns wieder durchbrechen kann. Diesen Prozess durchlaufen wir auf unserem Lebensweg. Jede Erfahrung, die wir machen, jede Freude und jeder Schicksalsschlag den wir durchleben, sind Wegweiser. Sie erinnern uns daran, dass wir Schritt für Schritt die Gewichtung weg vom Ich, hin zum wahren Selbst richten sollten. Das ist der Weg, der aus einem unbefriedigenden, angstbehafteten Dasein in ein erfülltes und freies Leben führt.
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Wow Danke!
Toller Beitrag, Danke dafür !!